Ernst auf Reisen.
In seinem Tagebuch von 1892 bewahrt Carl Ernst Mey seine Reiseerinnerungen auf. Unsere Lektorin Regina hat drin gestöbert und sticht nun mit Ihnen in See in Richtung Kanada.
Wir schreiben den 9. Juni 1892. Ernst Mey bricht mit seinem ältesten Sohn Willy auf. Dieser ist inzwischen 22 Jahre alt und auf der Suche nach einer neuen Herausforderung. Raus aus Leipzig, stattdessen will er Farmer in Kanada werden. Um alles unter Dach und Fach zu bringen, braucht er einen Ratgeber, seinen Vater, er ist bereits lange Jahre ein erfolgreicher Kaufmann.
Anfang Juni geht es von Leipzig via Vlissingen und London nach Liverpool. Liverpool ist einer der Häfen Großbritanniens, von denen die großen Transatlantikliner zu ihrer Passage nach Amerika ablegen. Vom gigantischen Hafen beeindruckt, beschreibt Ernst ihn als „Tor der ganzen Welt“.
Gebucht haben sie ihre Kabine auf der Parisian, einem der großen Passagier- und Frachtschiffe – mit Platz für 1.250 Passagiere. Sie checken in der 1. Klasse ein – entsprechend luxuriös die Ausstattung, die Mitreisenden situiert.
Als sie auf ihrer Kajüte ankommen, macht Ernst kehrt. Er diskutiert mit dem Purser, demjenigen, der auf dem Schiff auch für die Versorgung der Passagiere zuständig ist. Sie gehen einen Deal ein – Ernst erhält die gut ausgestattete Kabine des Pursers, dafür gibt Ernst ihm einen kleinen Obolus. Der Purser willigt ein. Willy bleibt auf der gebuchten Kabine.
Die 10-tägige Fahrt mit den Stationen Liverpool, Moville/Irland, Neufundland, Remonski/Kanada, Quebec, Montreal beginnt. Von aufwendigem Animationsteam keine Spur. Stattdessen sind es die Passagiere, die das Schiff zum Leben bringen. Konzerte, Shuffleboard, Bordzeitung, Diskussionsabende, Ernst wird zum Chairman.
An einem der Seetage erfolgt – als weiterer Spaß – eine „Gerichtsverhandlung“. Ernst wird zum Lord Chief Justice berufen – zum Richter. Die Anklage lautet auf einen Passagier, „dass der Angeklagte die Reise absichtlich mitgemacht hätte, wohl wissend, dass er so fürchterlich schnarche, dass das ganze Schiff zittere und niemand schlafen könne“. Es wird verhandelt, Passagiere werden als Zeugen befragt, sie belasten, entlasten, schließlich entflieht der Angeklagte, es beginnt an Deck eine Verfolgungsjagd, er wird gepackt und später wieder in den Saal geführt. Vor Urteilsverkündung bittet die Jury schließlich um ein mildes Urteil, er sei doch Witwer mit 17 Kindern. Ernst wägt ab, in seiner Verkündung bezeichnet er den Schlaf des Angeklagten als „grausame Verkommenheit“ und verurteilt ihn, bis zum Ende der Reise „in Eisen gelegt und in den Kofferraum des Schiffes verbannt zu werden“. Im Weiteren solle der Verurteilte „als Speise Ginger-Bierflaschen und Sägespäne erhalten“ – nun ja, wirkliche juristische Folgen waren das nicht.
In Momenten an Deck genießt Ernst die Weite des Ozeans, das Toben der Wellen, die frische Seeluft. Er beobachtet die gewaltigen Eisberge, an denen die Parisian entlangschippert. „Wenn ein Schiff einen solchen Koloß im Nebel oder in der Nacht anfährt, so ist es fast immer mit Mann und Maus verloren“, sagt er – zwanzig Jahre später ereilt dieses Schicksal die Titanic. Die Parisian wird eines der Schiffe sein, die sich auf die Suche nach Überlebenden begeben.
Ernst ist fasziniert von Inseln, Küsten und Häfen und dem Zusammenspiel von Technik, Natur und Mensch. Er saugt die – wie er sie beschreibt – „neue Welt“ auf. Und schließlich kommen sie nach zehn Tagen in Kanada an.